duz – Ordnung ist das halbe Gift

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Es gibt jede Menge Sprüche zum Büro und dessen Organisation. Wer Ordnung hält ist zu faul zum Suchen. Oder auch: Im Chaos regiert die Kreativität. Doch was davon stimmt eigentlich? Experten sind sich da so überhaupt nicht einig. Eine kleine Erkundung über die Schreibtischkante hinaus.


Rotraut Walden ist bekennende Volltischlerin. Wenn die promovierte Architekturpsychologin und Privatdozentin ihre Schreibtische an der Uni Koblenz und in der heimatlichen Wohnung beschreiben soll, spricht sie scherzhaft von „geologischen Schichten“, die am Ende eines jeden Semesters abgetragen werden müssen. Vor allem, wenn die zu begutachtenden Bachelor-Arbeiten ihrer Studierenden dazukommen.

„Im Gegensatz zu meinen Kollegen, die ganz regelmäßig aufräumen, brauche ich immer eine ganze Woche dafür“, gibt Walden zu, die sich als Forscherin unter anderem mit Büroumwelten beschäftigt. Es sei ein schönes Gefühl, wenn wieder Ordnung herrscht. Zur Leertischlerin – dem anderen Extrem – werde sie nie werden: „Ich kann sehr gut arbeiten, wenn ich viel auf dem Schreibtisch habe. Ich weiß immer, was in welchem Haufen steckt, und finde es auch immer.“

Organisation als Beruf

Ordnung im scheinbaren Chaos ist möglich. Was Volltischler beschwören, halten Leertischler für blanken Selbstbetrug. Und nicht nur die: Der Betriebswirt Jürgen Kurz zum Beispiel hat Organisation zum Beruf gemacht. Kurz lebt mit seiner Firma davon, andere Unternehmen bei der Büro-Organisation zu beraten. Die Formel vom kreativen Chaos hält er für blanken Unsinn: „Hinter notorischen Volltischlern steckt oft die Furcht, etwas Wichtiges zu vergessen, wenn es nicht irgendwo in einem Stapel auf ihrem Schreibtisch liegt.“ Das Extrem seien dann die sogenannten Messies, die auch nicht einen Zettel oder eine Büroklammer wegwerfen könnten – von faulenden Äpfeln in der Büroschublade ganz zu schweigen.

Kurz versucht, seinen Kunden dagegen Kaizen nahezubringen: Kaizen, so bezeichnet man eine japanische Arbeits- und Lebensphilosophie, deren Ziel die kontinuierliche Verbesserung ist. Bei Kaizen werden nicht nur Arbeitsabläufe analysiert und optimiert – auch das Wohlergehen der Mitarbeiter spielt eine große Rolle. „Wenn alles seinen Platz hat, kann man viel strukturierter arbeiten. Man verliert weniger Zeit durch unnötiges Suchen und kann sich auf die eigentliche, kreative Arbeit konzentrieren“, sagt Jürgen Kurz überzeugt.

„Denken Sie an einen Notarzt: Den würde man für hochgradig unprofessionell halten, wenn in seinem Koffer das komplette Chaos herrschte und er erst herumwühlen müsste, um die nötigen Instrumente für die Patientenversorgung zu finden.“ Den meisten Menschen gebe es ein gutes Gefühl, mit dem Aufräumen Ballast loszuwerden, erklärt Kurz.
Warum tun sie es dann so selten im Büro? Weil sich hartnäckig das Klischee halte, wer einen vollen Schreibtisch habe, sei auch enorm fleißig. „Viele befürchten, dass ein superordentlicher, leerer Schreibtisch beim Chef den Eindruck erwecken könnte, der- oder diejenige habe wohl zu wenig zu tun“, sagt Kurz.

Eine These, der Rotraut Walden widersprechen kann. Für sie ist ein dicht bepackter Schreibtisch mitnichten ein Markenzeichen von Strebern und sonstigen Büroempörkömmlingen, sondern Indikator für Leistungskraft. „Ein leerer, zu kleiner Schreibtisch und ein unpersönliches Arbeitsumfeld wirken sich eher kontraproduktiv auf die Arbeit aus“, sagt die Architekturpsychologin. Vor Ordnung kann sie nur warnen. Die sei Gift für Kreativität.
Rotraut Walden weiß, wovon sie spricht. Gemeinsam mit ihren Studierenden untersuchte sie das Hochhaus der Deutschen Post in Bonn. Das Licht-Temperatur-Konzept in den Räumen des Wolkenkratzers, die Anordnung und Funktionalität der von den Mitarbeitern gemeinschaftlich genutzten Bereiche und der Blick aus den zahlreichen Büros bekamen von Walden und ihren Studierenden gute Noten.

Aber: „Es sollte etwas mehr Wert auf Aspekte wie Layout und Arbeitsflächen gelegt werden, damit mehr Raum für Unordnung und somit aus unserer Sicht auch für Kreativität und Innovationen entstehen kann“, sagt Rotraut Walden. Auch fielen die „kalten, modernen Materialien und die teilweise unerwünschte, hohe Transparenz der verglasten Büroräume“ unangenehm auf. Die „Zellenstruktur“ der durchschnittlichen Büros an einer Hochschule seien der Kreativität zwar auch nicht immer förderlich, sagt sie, doch erlaubten sie immerhin eine individuelle Gestaltung.

Gibt es also immer noch den Höhlenbewohner in uns, der am liebsten in einer kuscheligen Ecke seine Beute um sich lagert? „Die Art, wie man seinen Schreibtisch gestaltet und mit Fotos oder Nippes bestückt, ist immer auch ein bisschen eine Show nach außen, die bedeuten soll: Das hier ist mein Territorium“, bestätigt Dr. Uta Brandes, Professorin für Gender, Design und Designforschung an der Köln International School of Design. Gemeinsam mit einem Kollegen hat sie den Fotoband „My Desk is my Castle“ herausgebracht (siehe Kasten), der als Ergebnis eines internationalen Forschungsprojekts weltweit Schreibtische dokumentiert.

Schreibtische als Lebensraum

Demnach kann man an einem Schreibtisch ablesen, wie spannend oder langweilig die Arbeit des Schreibtischbesitzers ist, welcher Hierarchiestufe, welchem Geschlecht und welchem Kulturkreis er angehört. In Asien etwa, sagt Uta Brandes, wo die Menschen oft sehr viel Zeit im Büro verbrächten, seien deren Schreibtische meistens mit allem Möglichen vollgestellt: vor allem mit vielen kitschigen Figuren und mit diversen Snacks.
Deutsche Forscher, die mit Kollegen aus Korea oder Japan zusammenarbeiten, sollten daraus aber keine falschen Schlüsse ziehen: „Was so infantil wirkt, weist nicht auf eine unreife Persönlichkeit hin, sondern einfach auf eine andere Kultur.“ Eine weitere Erkenntnis sei auch: „Je höher jemand in der Hierarchie steht, desto leerer ist oft sein Arbeitsplatz.“

Der moderne Büroarbeiter hinterlässt mehr Spuren im Internet als auf dem Schreibtisch.

Allerdings: Im Zeitalter des Büros 2.0 oder 3.0, in dem Wissenschaftler zunehmend virtuell durch den Arbeitsalltag navigieren, kann ein leerer, offenkundig aufgeräumter realer Schreibtisch die Bürobesucher auf eine falsche Fährte locken. „Der moderne Büroarbeiter hinterlässt mehr Spuren im Internet und drückt seiner Cloud, in der er online all seine Dokumente, Diagramme und Fotos aufbewahrt, viel eher seinen persönlichen Stempel auf als dem Schreibtisch“, sagt Stefan Rief. Er ist Abteilungsleiter am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart und Leiter des Forschungsprojekts „Office 21“.
Tatsächlich könne in der Cloud oder auf der Festplatte des Computers ein ebenso großes Chaos herrschen wie auf einem Schreibtisch. Nur merkt das kein Außenstehender. Rief selbst hat am Institut keinen festen Schreibtisch mehr, weil er so viel unterwegs ist. Unter Wissenschaftlern, insbesondere unter Hochschullehrern, werde dies aber noch lange nicht die Norm sein, räumt er ein.


Mareike Knoke


Erschienen in:
duz Magazin 08/13 vom 26. Juli 2013