SPIEGEL – Aus Chaos entsteht gar nichts

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Jürgen Kurz verhilft Firmen und deren Mitarbeitern zu aufgeräumten Büros und gut strukturierten Abläufen. Im Interview erklärt er, was die größten Ordnungsfallen sind.

SPIEGEL: Tötet eine sterile Umgebung nicht die Kreativität?

Kurz: Gegenfrage: Wenn Sie Aktenstapel und Zettelwirtschaft so inspirierend finden, warum richten Sie sich dann nicht auch Ihr Wohnzimmer so ein?

SPIEGEL: Womit fängt man am besten an, wenn man Ordnung im Büro haben möchte?

Kurz: Der erste Schritt ist immer: aussortieren. Viele Mitarbeiter stapeln Magazine, Zeitschriften und Hängeschränke voller Akten lange abgeschlossener Projekte. Es gibt immer Leute, die sagen: Wenn mal jemand den Katalog von 1972 sucht, bin ich der Einzige, der noch Auskunft geben kann! Aber das stimmt meist gar nicht. Die meisten Firmen haben ein zentrales Archiv. Und wenn nicht: Stellen Sie einen Bibliotheksschrank neben den Kopierer und sammeln Sie dort, was alle brauchen. Dezentrale Mini-Archive bringen nichts.

SPIEGEL: Die meisten Leute kommen nicht zum Aufräumen, weil sich die Arbeit im Wortsinn stapelt.

Kurz: Keiner hat die Zeit zum Aufräumen, aber jeder hat die Zeit zum Suchen! Klar, wenn ich etwas einfach auf einen Stapel lege, investiere ich keine Zeit. Aber dafür geht die Sucherei los, wenn ich oder ein bedauernswerter Kollege es später finden muss. Sie arbeiten dann reaktiv statt proaktiv. Sie werden zum Getriebenen! Wenn Sie ein gutes Ordnungssystem haben, haben Sie weniger Stress, mehr Zeit und mehr Raum für Kreativität.

SPIEGEL: Eignet sich dieselbe Art Ordnung für alle?

Kurz: Nur bedingt, aber es gibt Gemeinsamkeiten. Auch in einer fremden Küche werden Sie schnell herausfinden, wo das Besteck ist: Fast jeder hat eine Besteckschublade und sortiert dort Messer, Gabeln und Löffel ordentlich in ihre Fächer. Warum? Weil die Ordnung einfach einzuhalten ist und sich bewährt hat. Die Zugriffszeiten sind minimiert, die Investition des Einsortierens lohnt sich. Die Besteckschublade ist der manifestierte Beweis, dass Audits sinnlos sind: Wenn der Sinn überwiegt, muss man die Ordnung nicht ständig kontrollieren. Das läuft von selbst.

SPIEGEL: Unterscheidet sich Chef-Chaos von dem der Angestellten?

Kurz: Weder Alter noch Hierarchie machen einen Unterschied. Manche Ältere können die Digitalisierung kaum erwarten, manche Jüngere horten Papier. Nur weil jemand mit Papier arbeitet, muss das übrigens nicht ineffektiver sein. Auffällig ist: Wenn Frauen erkennen, dass etwas besser funktioniert, setzen sie es schnell um. Männer brauchen dafür oft länger – aber wenn, dann gibt es kein Halten mehr, die markieren dann mit Klebeband in der Schublade, wo genau der Stift zu liegen hat. Frauen machen das eher nicht.

SPIEGEL: Gibt es Unbelehrbare?

Kurz: In all den Jahren sind mir nur eine Handvoll untergekommen. Es gibt echte Messies, die fallen aber nicht in mein Fachgebiet. Und dann gibt es die Leute, die nicht wollen, dass Transparenz einkehrt. Wenn Sie Ordnung halten, sehen die anderen besser, was Sie tun oder nicht tun. Manche Menschen fürchten das. Aber mir geht es ja auch nicht darum, jeden auf das maximal mögliche Ordnungslevel zu bringen. Wenn Sie bei 43 von 100 möglichen Punkten sind und ich Ihnen helfe, auf 63 zu kommen, ist das für Sie eine spürbare Veränderung zum Guten. Wenn Ihr Kollege von 12 auf 18 kommt, gilt dasselbe.

SPIEGEL: Wie motiviert man sich und andere, Ordnung zu schaffen?

Kurz: Ein Blick von außen hilft sehr. Wenn ich in Firmen komme, mache ich Fotos von den Arbeitsplätzen. Die Mitarbeiter sehen dann ihre eigenen Schreibtische mit dem Blick eines Besuchers. Das vollgestopfte, unaufgeräumte Regal hinter Ihrem Schreibtisch nehmen Sie ja selbst kaum noch wahr. Arbeitsplätze können gern eine persönliche Note haben, aber man sollte schon den Eindruck haben, dass hier noch gut gearbeitet werden kann.

SPIEGEL: Ist Ordnung emotional?

Kurz: Wenn man Leute fragt, ob sie schon mal ihren Keller aufgeräumt haben, bejahen das die meisten – und lächeln. Warum? Weil es sich gut angefühlt hat. Wenn Leute ihr Chaos verteidigen, hilft eine Frage an die Person, die die Urlaubsvertretung macht – oft hat die regelrecht Angst davor. Gemeinsam aufzuräumen kann eine Mischung aus Klassentreffen und Betriebsfest sein. Die Leute lernen dabei viel voneinander – man stellt viel zu selten infrage, warum man die Dinge im Alltag so macht, wie man sie macht.

SPIEGEL: Wie kann man als Führungskraft unterstützen – ohne übergriffig zu sein?

Kurz: Wenn die Mitarbeiter merken, dass es ihre Arbeit erleichtert und ihnen nützt, muss man gar keine Überzeugungsarbeit leisten. Wenn Angestellte sagen: „Das sind meine Unterlagen”, sage ich: „Mit Verlaub, das sind sie nicht. Es ist noch nicht einmal Ihr Tisch oder Ihr Stuhl.” Die Freiheit des Einzelnen endet, wo die Aufgabe des Unternehmens in Gefahr ist. Das Geschäft muss weitergehen können, auch wenn Sie nicht da sind. Und ist es nicht auch schön, wenn man aus dem Urlaub wiederkommt und es stapelt sich nichts?

In siebeneinhalb Schritten zur Ordnung im Büro

Bevor Sie anfangen (das ist der halbe Schritt): Gehen Sie Ihre Schubladen, Schränke und Regale durch. Effizienzprofi Jürgen Kurz rät: „Sortieren Sie alles aus, was keine Miete zahlt.” Sprich: Die alten Hustenbonbons aus dem hinteren Teil der untersten Schublade und die Fachzeitschrift von 2003 mit dem interessanten Artikel, zu dessen Lektüre Sie bisher irgendwie noch keine Zeit hatten. Sind Sie unsicher, dann probieren Sie das Wegwerfen auf Probe: Packen Sie, was Sie aktuell nicht brauchen, in einen Karton. Schreiben Sie das aktuelle Datum drauf und ein zweites: „Wenn bis zum x. x. nicht geöffnet, dann ohne Ansehen des Inhalts entsorgen.” Und das tun Sie dann auch.

1. Schritt: Richten Sie einen Eingangskorb ein. Alles, was neu auf Ihren Schreibtisch kommt, sollte dort landen. Das ist Ihre Schnittstelle.

2. Scannen Sie Ihren Schreibtisch und dessen Umgebung auf wichtige Infos wie Telefonlisten, Workflows oder Ansprechpartner. Pflücken Sie diese Zettel ab und ordnen Sie sie griffbereit, zum Beispiel in einem Folienordner. Fortgeschrittene gönnen diesem Ordner ein Inhaltsverzeichnis – so findet sich auch Ihre Vertreterin an Ihrem Tisch zurecht, wenn Sie nicht da sind. (Unter Umständen ist das schon ein Anruf in Ihrem Urlaub weniger.) Und: Der Ordner muss einen festen Platz haben.

3. Wenn Sie noch viel mit Papier arbeiten: Schaffen Sie Überblick über Ihre eigenen Vorgänge durch ein Mappensystem oder einen Datumsordner mit 31 Fächern. Nutzen Sie Letzteren wie ein Lager: Ordnen Sie jedem Vorgang eine beliebige Nummer zu, die Sie auf einem Übersichtsblatt notieren.

4. Schaffen Sie einheitliche Abläufe für das Projektmanagement im Team: Auf das System müssen alle Mitarbeitenden gemeinsam Zugriff haben, die beteiligt sind – sei es digital oder analog. Gibt es analoges Material, sollten Sie im Team eine gemeinsame Ablage dafür haben.

5. Bändigen Sie die Informationsflut: Interessantes, aber nicht zwingend notwendiges Material wie ausgedruckte Präsentationen, Magazine, Werbekataloge etc. müssen Sie gar nicht sortieren. Machen Sie einfach einen Stapel in einem geschlossenen Schrank. Wichtig: Der muss nach oben begrenzt sein. Wenn der Stapel an die Oberkante seines Fachs stößt, greifen Sie mutig hinein und werfen Sie untersten zehn Zentimeter weg. Sie werden ohnehin nicht alles lesen können, was Sie lesen wollen.

6. Nutzen Sie Utensilien intelligent. Dieser Schritt ist banal und schnell getan: Sorgen Sie dafür, dass Locher, Tacker, Textmarker einen festen Platz im Schreibtisch haben. Wenn Sie diesen Dingen eine definierte Heimat geben, verkürzt das die Suchzeiten ungemein. Denken Sie an einen Notarztkoffer: Der ist so aufgeräumt, dass der Doktor jederzeit weiß, was wo ist, und keine Zeit mit Suchen verschwenden muss.

7. Termine und Aufgaben im Griff behalten: Verknüpfen Sie Ihre To-do-Liste und Ihren Kalender mit einem intelligenten System, sei es digital oder analog. Wenn Sie einen Pultordner nutzen (das war Punkt 3), schreiben Sie zu jedem Termin in den Kalender und zu jedem Punkt auf Ihrer To-do-Liste die dazugehörige Nummer, unter der sie alles aufbewahren.


Maren Hoffmann