Frankfurter Allgemeine Zeitung – Wie wichtig ist Ordnung im Büro?

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Ordnungsliebende gelten schnell als spießig. Dabei brauchen auch kreative Menschen Regeln und Rituale. Besonders im Homeoffice ist eine gewisse Struktur wichtig.

Ist Ordnung wirklich das halbe Leben? Oder, um gleich die entscheidende Preisfrage zu stellen: Sind Ordnungsliebende beruflich erfolgreicher, oder schneiden die Chaoten besser auf der Karriereleiter ab?

Klar ist: Das Thema Ordnung bewegt die Gemüter. Die „Stiftung Warentest” bewarb schon im Dezember und damit deutlich vor der Corona-Krise und allen damit verbundenen Homeoffice-Aufräumkollern mit einem Sonderheft das „Aussortieren, aufräumen, aufatmen”. Das populärste Aufräumwerk ist derzeit aber wohl der in 40 Sprachen übersetzte Bestseller „Magic Cleaning“ der japanischen Autorin Marie Kondo: Sie hat sich damit laut „Time”-Magazin sogar in die Riege der 100 einflussreichsten Menschen der Welt katapultiert. Aber sie ist nicht allein. Mit seiner Schrift „Mach dein Bett!” stand der amerikanische Offizier William McRaven wochenlang auf der Bestsellerliste der „New York Times”. Das knapp 100 Seiten schmale Bändchen wurde zur Bibel für all jene, die auf Morgenroutine schwören. Die Devise des Autors: Wer es schafft, morgens sein Bett zu machen, der schafft auch mehr. Der Verkaufsbuch-Bestsellerautor und Top Speaker Marc Galal betont, dass es mittlerweile sogar wissenschaftlich erwiesen sei, dass Personen, die morgens ihr Bett machen, deutlich besser und erfolgreicher abschneiden, was den Umgang mit Geld angeht.

Hinter solch vermeintlich schlichten Angewohnheiten steckten Disziplin und Sorgsamkeit, predigt Galal. „Überwindest du den allmorgendlichen Trott und kümmerst dich sofort darum, eine grundlegende Harmonie zu erzeugen, und ritualisierst einige Dinge, so überträgt sich dies auf den restlichen Tag, und es gelingt dir, dir Erfolgsgewohnheiten gegen den Alltagsfrust anzugewöhnen.“ Der rote Faden, der all diese Ratgeber durchzieht, ist: Sorgst du für Ordnung in deiner Umgebung, dann fühlst du dich auch innerlich besser. Ballast abwerfen, sich von Dingen lösen: das befreit. Und damit bist du am Ende (auch) beruflich erfolgreicher. Der Finanzbestseller-Autor und Coach Bodo Schäfer vergleicht in einem Youtube-Video das Aufräumen mit dem Schlussstrichziehen unter die Vergangenheit.

Wenn Ordnungsliebende also derart viel Beifall bekommen, stimmt dann das Sprichwort, Ordnung sei das halbe Leben? Ja, es stimmt, denn das andere halbe Leben bleibt ja dann dem Chaos reserviert. Für den Kreativitätsforscher Rainer Matthias Holm-Hadulla bilden Ordnung und Chaos bei erfolgreichen Mitarbeitern keinen Gegensatz. Besonders deutlich werde dies bei Hochkreativen, die ziemlich chaotisch wirken können. Zwei Jahrzehnte lang hat Holm-Hadulla als Psychiater die Psychosoziale Beratung für Studierende an der Universität Heidelberg geleitet. Heute ist er Leiter eines Coaching-Instituts und sagt:

„Letztlich geht es immer um ein Gleichgewicht zwischen disziplinierter Arbeit und freiem Phantasieren.”

Auch neurobiologisch zeige sich das dialektische Wechselspiel von Ordnung und Chaos: Durch gezieltes Lernen werden zunächst stabile neuronale Netzwerke gebildet. Diese neuronalen Ordnungsprozesse gehen mit dem Erwerb von Wissen und Können einher. Die neuronalen Netzwerke werden allerdings beim Gedankenschweifen, Tagträumen und selbst im Schlaf neu geordnet. „Produktiv und gar kreativ sind diese eher chaotischen Denkprozesse nur, wenn sie zu neuen Ordnungen führen. Deswegen sind Wissen und Können so wichtig”, sagt der Forscher.

Da das Wechselspiel von Ordnung und Chaos schon in der frühen Kindheit „sehr individuell” sei, müsse eine gute Pädagogik ermöglichen, Wissen und Können zu erwerben und gleichzeitig freie Spielräume schaffen, in denen sich die Persönlichkeit – zum großen Teil unbewusst – herausbilden könne. Daneben werde Kreativität oft mit Ideenfindung gleichgesetzt. Mindestens genauso wichtig sei aber die Auswahl der besten Ideen und ihre geduldige Ausarbeitung. Dazu bedürfe es bei den meisten eines „ritualisierten Arbeitsstils”, zu dem auch die Abwehr von medialen Störungen gehöre.

Bei der Personalauswahl sei es entscheidend, ob die in Frage kommende Person ihren Weg zwischen konzentrierter Erledigung der Aufgaben und persönlicher Spielfreude realisieren könne. „Das sieht man häufig trotz ausgeklügelter Assessments erst, wenn man mit ihnen zusammenarbeitet”, berichtet der Coach.

Jürgen Kurz, Geschäftsführer der Tempus GmbH in Giengen, sieht hier Nachholbedarf: „Die Firmen haben, zumindest flächendeckend, noch nicht erkannt, welches Potential es bietet, wenn ich meinen Schreibtisch und meine laufenden Projekte in Ordnung habe. ” Das Sprichwort von der Ordnung klinge zwar „etwas angestaubt und „unsexy ” und werde teilweise negativ angesehen, weil Ordnungsliebe auch zur Pedanterie werden könne.

Statt Ordnung spricht Kurz daher lieber von „Spielregel ” und bringt folgendes Beispiel: „Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen kreativen Briefträger, der Ihre Post irgendwo auf dem Grundstück verteilt oder beim Nachbarn einwirft, nach dem Motto: Suchen macht doch auch an Ostern Spaß! ” Ähnlich sei es mit der Ordnung. „Wenn ich bei mir zu Hause immer meinen Autoschlüssel am Schlüsselbrett hängen habe oder auf dem Sideboard an einer bestimmten Stelle, dann habe ich weniger Stress. ”

Statt schon bei der Einstellung danach zu fragen, ob Menschen ihren Schreibtisch aufräumen oder nicht, gelte ein unordentlicher Schreibtisch leider immer noch als „Kavaliersdelik” oder „Special Effect”, bedauert Kurz. Das Problem von Unordnung sei ja nicht der schlecht aussehende Schreibtisch. „Das Problem sind die Projekte, die in den Stapeln vergessen werden, verspätet zur Bearbeitung gelangen und so weiter. Diese Erkenntnis hat sich leider noch nicht flächendeckend durchgesetzt. ” Dabei sei es völlig zweitrangig, ob jemand einen chaotischen Schreibtisch oder einen chaotischen Computer habe.

Kurz‘ Kunden scheinen seine Aufräumprojekte zu schätzen. So verkünden etwa die Stadtwerke Ulm/Neu-Ulm GmbH, dank eines solchen Projekts 20 Prozent bei den Flächen, 24 Prozent bei den Suchzeiten, zwölf Prozent bei den Durchlaufzeiten gespart und die Effizienz um zwölf Prozent gesteigert zu haben. Zusätzlich hätten sich Ordnung und Sauberkeit in den Büros deutlich verbessert. Das habe die Mitarbeiterzufriedenheit erhöht und obendrein zu dem Empfinden geführt, die Arbeit sei angenehmer und stressfreier geworden. Ähnlich äußert sich die Schweizer Bundesbahn, die ebenfalls den Aufräumprofi (aus)sortieren ließ. Dort wird sogar eine Summe von 610 000 Euro an direkten Einsparungen infolge der Aktion genannt.

Aber es gibt auch die Anhänger der Chaos-Theorie. Sie finden ein unaufgeräumtes Büro kreativer und halten Chaos für beflügelnd. Gegen ausgeklügelte Ordnungssysteme spricht in ihren Augen: Suchen und Abheften kosten Zeit. Angeblich sucht jeder Büroangestellte täglich neun Minuten auf seinem Schreibtisch nach Verlegtem. Deutlich schlechter schneiden erstaunlicherweise jene ab, die Ordnungssysteme führen: Sie sollen 36 Prozent länger nach ihren Unterlagen kramen, schreibt der Managementexperte Eric Abrahamson in seinem Buch „Das perfekte Chaos”. Auch bei der Mailsuche hätten sich Ordnerstrukturen nachteilig gegenüber der einfachen Suchfunktion im Mailprogramm erwiesen.

Doch Aufräumexperte Kurz kontert: „Ich halte das kreative Chaos für eine Lebenslüge. Alle Kreativitätstechniken sind hochgradig strukturiert. Struktur ermöglicht Kreativität.” Im Zeitmanagement gebe es den Spruch „Leertischler sind effizienter als Volltischler”. Soll heißen: Wenn man alles hat, was man für die Arbeit benötigt, aber nur dieses, dann ist man effizienter. In seinen Seminaren frage er seit vielen Jahren die Teilnehmer, ob sie dem zustimmen, und jedes Mal liege die Zustimmungsquote bei 100 Prozent.

Auch in einem anderen Punkt scheinen die „Leertischler” die Nase vorn zu haben: In einem Newsletter hatte Kurz seine rund 20 000 Leser – darunter Chefs wie Mitarbeiter – einmal gefragt, ob sie glaubten, dass Chefs Mitarbeiter mit einem ordentlichen und aufgeräumten Schreibtisch bei Beförderungen bevorzugen. „Die Aussage war ein klares Ja. Es hat sich also herausgestellt, dass sowohl Chefs als auch Mitarbeiter bei Beförderung den Mitarbeiter mit ordentlichem Schreibtisch im Vorteil sehen.” Derzeit arbeitet übrigens sein komplettes Team – so wie viele andere in der Corona-Krise auch – im Homeoffice. Dort ist es vielleicht noch wichtiger, Ordnung zu halten, um noch irgendwie Berufliches und Privates, Bürosachen und Schulhefte der Kinder, Wichtiges und Unwichtiges zu trennen. Sein spontanes Fazit: „Mein Team hatte die produktivste Woche, die ich in 30 Jahren Berufstätigkeit erlebt habe.”


Birgitta vom Lehn